In dem zweiten Beitrag unserer Mini-Blog-Reihe, stellen wir euch die britische Komponistin, Sound-Hackerin und Kommunikationstechnikerin Delia Derbshire (1937-2001) vor. Zu Lebzeiten nur Insidern der Szene bekannt, gilt sie heute als Virtuosin der elektronischen Musik und Wegbereiterin des Techno.
Schall und Rauch – die frühe Prägung
Geboren 1937 in der mittelenglischen Industriestadt Coventry, wächst Delia Derbyshire in der gehobenen katholischen Arbeiterklasse auf. In frühen Jahren erlebt sie einen Luftangriff der Deutschen, der für sie prägend ist. Bombensirenen, Entwarnungssignale, die Klänge der katholischen Messe und das Klackern von Holzabsätzen auf Kopfsteinpflaster benennt sie als die akustischen Marker ihrer Kindheit. Bereits in der Schule experimentiert sie mit Alltagsgegenständen und untersucht deren klangliche Eigenschaften. Ihre erste Liebe aber ist das Radio, welches Delias Welt durch Musik und Bildung bereichert. Im Alter von acht Jahren erhält sie Klavierunterricht; später kommt Violine hinzu. Delias Interesse an Schallwellen mündet in dem Studium von Musik und Mathematik am exklusiven Girton-College in Cambridge. Der Art und Weise wie wir Klang wahrnehmen gibt Derbyshire Vorrang vor jeder Theorie.
Die experimentellen 1960er Jahre & der BBC Radiophonic Workshop
Die Freidenkerin zieht es ins Audio-Universum. Klassisch inspirieren sie vor allem Beethoven, Bach und Mozart. Auf elektronische Kompositionen wird sie durch einen Besuch auf der Brüsseler Weltausstellung von 1958 aufmerksam. Edgard Varèses Poème Électronique wird im Le Corbusier Pavilion installiert und beeindruckt Delia tief.
Zunächst bewirbt sie sich bei Decca Records, wird aber mit der Begründung abgewiesen, dass Frauen im Studio nicht angestellt würden. Wie zuvor Daphne Oram, begibt sich Deryshire zur BBC. 1960 beginnt sie als assistierende Studio Managerin, bittet aber bereits 1962 um Versetzung in den BBC Radiophonic Workshop. Dort bleibt bis 1973 tätig. Die BBC brachte einige außergewöhnliche Sound-Koryphäen hervor, doch Derbyshire nimmt eine Sonderstellung ein. Ihr akribischer Arbeitsansatz und die hoch experimentellen Produktionsweisen münden in psychedelischen und futuristischen Resultaten. Sie kreiert ikonische Stücke mit hohem Innovationsgehalt und gilt als diejenige, die das Unmögliche möglich macht. Dies weckt auch das Interesse der Fachwelt.
Unter dem Pseudonym Li de la Russe komponiert sie auch freiberuflich, hat explorative Begegnungen etwa mit Karlheinz Stockhausen und arbeitet mit Pink Floyd, Peter Maxwell Davies, George Martin, Anthony Newley, Yoko Ono, den Beatles und weiteren Größen zusammen.
Unter ihrem maßgeblichen Mitwirken im BBC Workshop wird die wohl populärste Titelmusik der britischen Filmgeschichte realisiert: Die der Science-Fiction-Serie Doctor Who. Anstelle einer vollständigen Partitur gibt der Komponist Ron Grainer Delia für Doctor Who bloß eine auf ein Blatt gekritzelte Idee mit vagen Anweisungen. Diese interpretiert sie derart eigen, dass Grainer sein eigenes Stück kaum wiedererkennt. Für das Thema verwendet Derbyshire auf virtuose Weise zwölf Oszillatoren, die sie auf Tape aufzeichnet, loopt und zu neuen Effekten verfremdet. Jede Note in diesem Stück wird hierzu einzeln geschnitten und auf eine Bandspule gelegt. Eine Arbeit pedantischen Ausmaßes, in die Delia viele Stunden und Geduld investiert.
Für den Erfolg der Titelmelodie wird ihr zeit ihres Lebens kein Ruhm zuteil, denn ihre Erwähnung als Co-Komponistin ist durch eine Anonymitätsklausel der BBC ausgeschlossen. Die Klausel galt damals für alle Angestellten der BBC. Trotz der strengen Arbeitsauflagen und teils auch geschlechtsspezifischen Differenzen, mit denen Frauen, die sich im Nachkriegsengland auf männliches Terrain begeben, konfrontiert sind, bietet die BBC Derbyshire den Raum, ihre musikalischen und mathematischen Fähigkeiten kreativ zu entfalten.
Als sie erfährt, ihr Stil sei „zu lasziv für 11-Jährige“ und „zu anspruchsvoll für das BBC2-Publikum“, widmet sie sich dem Film und Theater, wie auch einigen „Happenings“ und Events.
Dein Sound in Bestform — mit Lautsprechern von Teufel
1973 bricht sie endgültig mit der BBC, die zur allgemeinen Steigerung der Produktivität Synthesizer einsetzt. Delia sträubt sich gegen die technische Innovation, die sie für zu anorganisch hält. Die Musik verändere sich hierdurch zum Schlechten und die Welt sei aus dem Takt geraten, sagt sie. Außerdem empfindet Delia das Management zu konservativ. Sie entzieht sich der Szene und Mitte der 1970er-Jahre wird es still um Derbysire. Sie leidet zeitweise an Depressionen, kämpft mit Alkoholproblemen und arbeitet in wechselnder Anstellung vor allem im Bereich der Funk-Technik.
Lesetipp: Lamarr, Pavel & Co. – (fast vergessene) Pioniere der Audiotechnik
Einzelgängerin der elektronischen Avantgarde
In Pot Au Feu verarbeitet Derbyshire Impressionen ihrer Kindheitsprägung. Die Echos der Sirenen während Derbyshires Evakuierung im zweiten Weltkrieg gehen einher mit den Klick-Klack-Sounds der Holzschuhe, die Fabrikangestellte damals trugen. Eine hochabstrakte, spannungsgeladene Klangwelt wird erzeugt, deren akustische Präzision zu Delias Merkmal wird. Sie ordnet Frequenzen und Tonhöhen oft sinnhafte Vorstellungen zu, wobei ihr Ausgangspunkt stets die griechische harmonische Reihe ist.
Trotz ihrer kreativ-technischen Brillanz und der Anerkennung derer, mit denen sie kollaboriert, hält sich Derbyshire nie lange in einer Formation. Das Projekt Unit Delta Plus, das den Bekanntheitsgrad für elektronische Musik auf Musikfestivals steigern will und das Derbyshire mit Brian Hodgson und Peter Zinnovieff 1966 gründet, besteht nur etwa ein Jahr. Die mit David Vorhaus 1968 ins Leben gerufene Band White Noise, verlässt Derbyshire kurz nach dem Debütalbum An Electric Storm.
Boom — ein kurzes Aufblitzen
In den 1990er Jahren erlangt Derbyshire besonders in der jüngeren Szene Kultstatus ob ihres avantgardistischen elektronischen Sounds. Ihre Kompositionen inspirieren und beeinflussen Künstler des Big Beat, Trip-Hop, Techno, House, Drum and Bass, der IDM und Electronica im Allgemeinen. Sie erhält musikalische Widmungen von den Chemical Brothers, Aphex Twin und Sonic Boom – um nur drei von vielen zu nennen. Ende der 1990-er findet Peter Kember aka Sonic Boom (Spaceman 3) Derbyshire, indem er das Telefonbuch von Coventry durchforstet. Im Jahr 2000 komponiert sie auf seinen Anreiz hin neue Stücke und arbeitet bis zu ihrem Tod 2001 mit ihm an einem neuen Album. Kurz zuvor sagt sie, die Arbeit an reiner elektronischer Musik mit Künstlern wie Sonic Boom habe sie wiederbelebt.
Jetzt, ohne die Zwänge, „angewandte Musik“ zu machen, kann mein Geist frei fliegen und dort weitermachen, wo ich aufgehört habe
Das musikalische Erbe: 267 unveröffentlichte Tonbänder
Ordentlich in Müslischachteln gepackt und mit Etiketten versehen, findet Delias Partner posthum 267 unveröffentlichte Reel-to-reel-Tonbänder aus der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. Die Sammlung hatte Derbyshire auf dem Dachboden aufbewahrt.
Die experimentellen Kompositionen werden heute in den Bereich des Techno eingeordnet. Das Magazin The Times krönte sie als „Gottmutter der elektronischen Tanzmusik“ und der Guardian nennt sie „die unbesungene Heldin der britischen elektronischen Musik„.
Wir danken dir, Delia.
Klangstarke Multitalente für elektronische Musik & Techno
About: Der Delia Derbyshire Day
Ein Projekt zur Archivierung und Restaurierung der Sammlung wurde von Mark Ayres, Dr. David Butler und Brian Hodgson durchgeführt. Heute befindet sich die komplette Sammlung der Kompositionen von Delia Derbyshire in der John Rylands Library der University of Manchester. Nach Vereinbarung kann das Archiv eigesehen werden. Dort und in der zugehörigen Organisation mit dem Titel Delia Derbyshire Day (DD Day) lebt ihr Vermächtnis physisch weiter.
Die angebotenen Aktivitäten und Veranstaltungen im Rahmen des DD Day dienen der Förderung der britischen elektronischen Musik und sind sowohl interaktiv wie familienfreundlich ausgerichtet.
Titelbild: ©E Gammie CC BY-SA 2.0 mit Creative Commons Lizenz
Bild 1: ©kEURguENTEal CC BY-SA 2.0 mit Creative Commons Lizenz
Bild 2: ©Andy Mabbett CC BY-SA 4.0 mit Creative Commons Lizenz
Thomas
21. Sep. 2021, 6:07
Wirklich sehr interessant,
hoffentlich kann ich den Ort des Geschehens einmal besuchen :)